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Politische Jugendbildung im Spannungsfeld

Zur neuen JuRe-Broschüre „Nahostkonflikt und Antisemitismus"

// Johannes Kemnitz

Mit der neuen Fach- und Praxispublikation greift das Projekt JuRe – Jugend und Religion ein Thema auf, das seit dem 7. Oktober 2023 mit großer Wucht in Bildungsräume hineindrängt. Die Broschüre „Nahostkonflikt und Antisemitismus“ ist der Versuch, Orientierung zu geben – ohne einfache Antworten zu liefern. Sie will Fachwissen stärken, praktische Impulse geben und zu einer Haltung ermutigen, die Antisemitismus erkennt und benennt. Gerade in Berufsschulen, die oft wenig geschützte Orte für kontroverse Debatten sind, ist das ein notwendiger und mutiger Schritt.

Besonders hervorzuheben ist die fundierte Analyse des Beitrags von Lea Güse und Henning Gutfleisch. Sie zeigen, wie Antisemitismus und Antifeminismus ideologisch verwoben sind – nicht nur historisch, sondern auch in ihrer gegenwärtigen Gewaltförmigkeit. Dass sexualisierte Gewalt gegen israelische Frauen am 7. Oktober medial und politisch so wenig Beachtung fand, wird von ihnen nicht nur benannt, sondern kritisch eingeordnet: als Ausdruck einer antisemitischen Schieflage selbst innerhalb feministischer Räume. Der Text ist unbequem – und gerade deshalb zentral für eine politische Bildungsarbeit, die ihren eigenen blinden Flecken nicht ausweicht.

Mit der israelischen Perspektive von Uriel Kashi kommt zudem eine Stimme zu Wort, die selten Gehör findet: Ein israelischer Historiker berichtet eindrücklich von seiner persönlichen Erfahrung des 7. Oktober, von existenzieller Angst und dem Verlust des Sicherheitsversprechens, das Israel seinen Bürger*innen seit 1948 gegeben hat. Er formuliert keine einfachen Wahrheiten, sondern beschreibt Widersprüche, Dilemmata, politische Sackgassen – und die Realität einer Gesellschaft, die sich im Ausnahmezustand neu organisieren muss.

Im zweiten Teil der Broschüre werden zwei Praxisprojekte vorgestellt, die zeigen, wie politische Bildung mit Jugendlichen konkret arbeiten kann. Das Theaterprojekt zu Hans Litten verbindet biografisches Lernen mit aktuellem Diskriminierungsgeschehen und lädt zur Auseinandersetzung mit Widerstandsgeschichten ein. Die Konstanzer Dilemma-Diskussion wird als Methode vorgestellt, mit der ethische Konflikte besprechbar gemacht werden – auch und gerade dann, wenn es keine klaren Antworten gibt. Beide Projekte zeigen: Politische Bildung muss nicht nur Wissen vermitteln, sondern Erfahrungsräume schaffen.

Doch bei aller Anerkennung: Die Broschüre hat auch Leerstellen – oder genauer gesagt: ein erkennbares Ungleichgewicht. Palästinensische Stimmen, Erfahrungen und Analysen finden in dieser Publikation kaum Raum. Das fällt umso stärker auf, da der Nahostkonflikt auf dem Titel optisch und begrifflich vor dem Thema Antisemitismus steht. Wer die Broschüre aufschlägt, erwartet vielleicht eine multiperspektivische Annäherung an den Konflikt. Doch der inhaltliche Fokus liegt klar auf antisemitismuskritischer Bildungsarbeit – wenn auch aus guten Gründen.

Das JuRe-Projekt selbst hat in seiner Arbeit durchaus palästinensische Perspektiven eingebunden – etwa in Form von Online-Vorträgen, Veranstaltungen oder internen Weiterbildungen. Diese Stimmen waren in der Projektpraxis präsent. Deswegen verwundert es, dass sie in der Publikation nicht mit abgebildet sind. Denn gerade in Berufsschulklassen, in denen Schüler*innen mit eigenen Fluchtgeschichten oder familiären Bezügen zu den palästinensischen Gebieten sitzen, ist es wichtig, auch diese Perspektiven wahrzunehmen. Nicht, um falsche Ausgewogenheit zu inszenieren. Sondern um Raum für Ambivalenz und Anerkennung zu schaffen – ohne Relativierung antisemitischer Gewalt.

Politische Bildungsarbeit darf sich nicht in Lagerlogiken verfangen. Sie muss in der Lage sein, unterschiedliche Erfahrungsräume sichtbar zu machen – ohne sie gegeneinander auszuspielen. Gerade wenn es um Konflikte geht, die global wirken und in individuelle Biografien hineinragen, braucht es Räume, in denen alle sprechen dürfen – und alle auch aushalten müssen, gehört zu werden.

Was außerdem fehlt, sind konkrete didaktische Handreichungen. Die Broschüre bleibt stark im Diskursiven. Für Bildungspraktiker:innen, die mit überforderten oder polarisierten Gruppen arbeiten, wäre mehr methodische Anleitung hilfreich gewesen: Wie moderiere ich eine Eskalation im Klassenraum? Wie gehe ich mit antisemitischen Codes um, die nicht offen, aber deutlich spürbar sind? Wie begleite ich Schüler:innen, die selbst in ihrer Herkunftsfamilie ein völlig anderes Bild vom Konflikt vermittelt bekommen? Die Broschüre regt zum Nachdenken an – aber sie begleitet (noch) nicht genug durch die praktische Umsetzung, aber vielleicht ist das von einer einzigen Publikation auch zu viel verlangt.

Nicht zuletzt stellt sich die Frage nach der emotionalen Sicherheit in der Bildungsarbeit. Die Texte sind anspruchsvoll, fordernd, streckenweise konfrontativ – das ist gut und richtig. Aber gerade für Lehrkräfte, die sich selbst unsicher fühlen, bräuchte es stärkere Hinweise zur Schaffung geschützter Räume, zur Reflexion der eigenen Position und zur professionellen Haltung im Spannungsfeld zwischen Betroffenheit, Verantwortung und pädagogischem Auftrag.

Die JuRe-Broschüre ist kein Handbuch mit fertigen Antworten. Sie ist ein Beitrag zu einer notwendigen Debatte. Sie stellt sich den Zumutungen der Gegenwart, benennt Kontinuitäten antisemitischer Gewalt und fordert dazu auf, nicht länger zu schweigen. Wer nach weiteren Materialien sucht, wird auch auf unserem Blog fündig: Die Materialsammlung zum Nahostkonflikt ergänzt die Broschüre um weitere Perspektiven, didaktische Zugänge und weitere Impulse zur Arbeit mit Jugendlichen.

Diese Broschüre ist ein Anfang. Sie zeigt, dass politische Bildung auch in aufgeladenen Zeiten nicht ausweichen muss. Aber sie erinnert uns auch daran, wie viel Arbeit noch vor uns liegt: an unserer Sprache, an unseren Räumen, an unserem Mut, Unvereinbares nebeneinander stehen zu lassen – und trotzdem weiterzumachen.

 

Hier kann die Broschüre als PDF runtergeladen werden: jugend-und-religion.de


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