[Studie] Kindergesundheitsbericht: Deutschland verstößt gegen Kinderrechte
In ihrem ersten Kindergesundheitsbericht, der jüngst in Berlin präsentiert wurde, stellt die Stiftung Kindergesundheit dem körperlichen und seelischen Gesundheitszustand von jungen Menschen in Deutschland ein durchwachsenes Zeugnis aus. Anlass zur Sorge gebe insbesondere der ungebrochen starke Einfluss der sozialen Herkunft auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Zur zunehmenden Bedrohung werde der Klimawandel.
„Tagtäglich wird in Deutschland gegen die Kinderrechtskonvention verstoßen. Die dort verbriefte Priorität des Kindeswohls wird zu häufig missachtet“ so der Münchener Kinder- und Jugendarzt und Stiftungsvorstand Prof. Berthold Koletzko. Dies zeige der vorgelegte Bericht in teilweise erschütternder Deutlichkeit. Trotz allgemein guter Gesundheitschancen bleibe in Deutschland vielen Kindern das in der UN-Kinderrechtskonvention verbriefte „erreichbare Höchstmaß an Gesundheit“ verwehrt – aufgrund vermeidbarer struktureller Defizite.
Verbesserungsbedarf in allen untersuchten Bereichen
Der Kindergesundheitsbericht 2022 umfasst eine breite Palette an Themen rund um die Gesundheit von Heranwachsenden in Deutschland und reicht von der Wahrnehmung von Routineimpfungen und Vorsorgeuntersuchungen über den Einfluss sozioökonomischer Faktoren bis hin zu pandemie- und klimabedingten Einflüssen auf ihre seelische und körperliche Gesundheit. Darüber hinaus untersucht der Bericht auch allgemeine systemstrukturelle Fragestellungen und Probleme der pädiatrischen Versorgung in Deutschland. In allen im Kindergesundheitsbericht untersuchten Feldern attestiert er erheblichen Verbesserungsbedarf.
Kinder- und Jugendliche im Krisenmodus
„Klimawandel, Corona-Pandemie, Krieg in Europa – Kinder und Jugendliche wachsen in einer Zeit vielfältiger Krisen auf. Das hat weitreichende Auswirkungen auf ihre Gesundheit“ so Koletzko weiter. Die vergangenen Corona-Jahre hätten Kindern und Jugendlichen viel abverlangt. Es sei deutlich geworden, dass das Wohlergehen der jungen Generation in unserer Gesellschaft mitnichten Priorität habe. „Kinder haben ein Recht auf gute Gesundheit. Das Thema Kindergesundheit muss deshalb als ganzheitliche, gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden und eine zentrale Rolle in allen politischen Entscheidungsprozessen einnehmen. Mit dem vorliegenden Bericht wollen wir eine konkrete Debatte anstoßen“ so Koletzko.
Zentrale Erkenntnisse auf einen Blick
Kinder- und Jugendmedizin: Der finanzielle und personelle Zustand der Kinderkliniken und - abteilungen in Deutschland ist in vielen Bereichen prekär. Das Fallpauschalensystem für die Vergütung der Krankenhäuser bildet den erhöhten Personalaufwand für die Betreuung von Kindern und Jugendlichen und die hohen Vorhaltekosten der Kindermedizin nicht ab. Eine bedarfsgerechte medizinische Versorgung kann so vielerorts kaum noch gewährleistet werden.
Klimawandel: Klimabedingte Krankheiten werden in den kommenden Jahren deutlich zunehmen. Umweltfaktoren und klimatische Veränderungen führen schon jetzt zu einem deutlichen Anstieg vektorenübertragener Infektionskrankheiten und zu Krankenhausbehandlungen wegen Flüssigkeitsmangel. Auch kindliche Allergien tendieren zu einer Zunahme.
Sozioökonomische Disparität: Der sozioökonomische Status der Eltern hat starken Einfluss auf das physische und psychische Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen. Auswertungen im Bericht zeigen, dass der Einfluss der sozialen Herkunft seit zehn Jahren konstant und erheblich die Kindergesundheit beeinflusst, ohne dass hier maßgebliche Verbesserungen stattgefunden haben. Beim Ernährungsverhalten und dem Adipositasrisiko hat sich die sozioökonomische Ungleichheit sogar weiter erhöht.
Mentale Gesundheit: Die seelische Belastung von Heranwachsenden bleibt auch Jahre nach dem Beginn der Pandemie auf einem hohen Niveau. Depressive Episoden und Angststörungen sind deutlich häufiger aufgetreten als vor Coronazeiten.
Versorgung: Im Bereich chronischer wie seltener Erkrankungen gibt es in Deutschland eine deutliche Fragmentierung der Versorgungsangebote, mangelhafte Qualität sowie insgesamt eine Unterversorgung. Vielfach kann das Gesundheitssystem den Bedürfnissen der Betroffenen nicht gerecht werden.
Früherkennung: Das deutsche System der Vorsorgeuntersuchungen funktioniert gut und zeigte auch während der Pandemie nur wenige Schwächen. Verbesserungsbedarf besteht vor allem bei der Teilnahme an den Jugenduntersuchungen (J1 und J2), die im Vergleich zu den U- Untersuchungen deutlich weniger wahrgenommen werden.
Impfen: Bei Grundimmunisierungen von Kindern und Jugendlichen zeigen sich für manche impfpräventable Infektionskrankheiten große Impflücken. Besonderes unbefriedigend sind weiter die Impfquoten Jugendlicher gegen Humane Papillomviren (HPV).
Ernährung und Bewegung: Viele Kinder und Jugendliche haben weiterhin schlechte Essgewohnheiten und einen ausgeprägten Bewegungsmangel. Die mit digitalen Medien verbrachte Zeit steigt. Der Konsum von Fleisch, Zucker, zuckerhaltigen Getränken und Fast Food ist deutlich zu hoch. Auch die Qualität des Essens in Schulen und KITAs ist häufig schlecht und nicht bedarfsgerecht.
Herausgeber und Partner
Unterstützer und Mitherausgeber des Kindergesundheitsberichts 2022 sind die Stiftung „Die Gesundarbeiter“, die Krankenkasse vivida bkk, MSD Sharp & Dohme GmbH und Novartis Pharma GmbH.