Gewalt gegen Mädchen und Frauen im Netz
Wie frei ist das Internet, wenn bestimmte Gruppierungen darin Hass und Gewalt ausgesetzt sind? Zum Weltfrauentag, am 8. März, beschäftigen wir uns mit dem Thema Gewalt gegen Mädchen und Frauen im Netz. Anna-Lena von Hodenberg, die Gründerin der Organisation HateAid, stand uns dafür Rede und Antwort. HateAid bietet Betroffenen digitaler Gewalt Unterstützung.
Ihre Organisation wurde 2018 gegründet. Wie viele Fälle haben Sie seitdem bearbeitet und können Sie uns sagen, welcher Fall Ihnen besonders eindrücklich im Gedächtnis geblieben ist?
Anna-Lena von Hodenberg: Wir haben inzwischen mehr als 1.800 Betroffene von digitaler Gewalt unterstützt. Die Fälle sind sehr unterschiedlich: Da ist zum Beispiel die Aktivistin, die immer wieder sexistische und frauenverachtende Kommentare erhält. Oder der Politiker, der explizite Morddrohungen mit rechtsextremen Inhalten per Mail bekommt. Besonders im Gedächtnis bleiben uns auch Fälle, in denen private Adressen und Daten im Netz veröffentlicht werden. Wenn der Hass ins analoge Leben übergreift, ist das extrem gefährlich, wie etwa der Mord an Walter Lübcke oder der Angriff auf Henriette Reker gezeigt haben. Uns beschäftigen aber auch Fälle, in denen intime Bilder von Frauen auf Pornoplattformen hochgeladen werden. Betroffene müssen dann im Zweifel jeden Abend damit verbringen, die Inhalte im Netz aufzuspüren und zu melden.
Was verstehen Sie unter digitaler Gewalt und welche Formen kann sie annehmen?
Anna-Lena von Hodenberg: Digitale Gewalt hat viele Gesichter. Das kann etwa der beleidigende Kommentar unter dem eigenen Profilfoto bei Facebook sein oder die E-Mail mit sexistischen Beleidigungen und Vergewaltigungsfantasien. Was wir in unserer Arbeit leider häufiger sehen, ist die Veröffentlichung privater Daten im Netz, beispielsweise der Adresse oder des Namens der Schule der Kinder. Auch das unaufgeforderte Versenden von Penisbildern, sogenannten „Dick-Pics“, ist keine Seltenheit. Kurz gesagt: Digitale Gewalt ist ein Sammelbegriff für verschiedene Formen der Belästigung, Herabsetzung und Diskriminierung anderer Menschen im Internet oder mithilfe elektronischer Mittel.
Wie hoch ist das Risiko für Frauen und Mädchen im Netz angegriffen zu werden und warum werden sie tendenziell häufiger Opfer von Hass?
Anna-Lena von Hodenberg: Das Netz ist kein sicherer Ort für Frauen und Mädchen, das muss man leider so drastisch sagen. In einer repräsentativen Umfrage des IDZ Jena[1] gaben 88 Prozent der Menschen, die schon einmal Hass im Netz gesehen haben, an, dass sich dieser gegen Frauen gerichtet habe. Die Gewalt ist oftmals sexualisiert, frauenfeindlich und sehr persönlich. Vergewaltigungsdrohungen, explizite Verstümmelungsfantasien, gefälschte Nacktfotos – all das ist Alltag für Frauen im Netz. Und das geschieht vor allem aus einem Grund: weil sie Frauen sind. Im analogen Leben kämpfen wir seit Jahrzehnten um Teilhabe am öffentlichen Diskurs, um unseren Platz im öffentlichen Raum. Diese Teilhabe wird durch den strukturellen Frauenhass im Netz nun wieder in Frage gestellt.
Welche Gruppierungen trifft digitale Gewalt ebenfalls besonders häufig?
Anna-Lena von Hodenberg: Wir beobachten, dass sich Diskriminierung auch im digitalen Raum fortsetzt. Besonders oft betroffen sind marginalisierte Gruppen – unter anderem Menschen, die bereits im analogen Leben Rassismus erfahren oder Menschen aus der LGBTIQ+-Community. Auch Personen des öffentlichen Lebens wie etwa Journalist*innen, Politiker*innen oder Aktivist*innen erleben häufig Hass im Netz.
Was macht digitale Gewalt mit den Betroffenen? Und was macht sie mit uns als Gesellschaft?
Anna-Lena von Hodenberg: Wenn das Handy gar nicht mehr aufhört, zu vibrieren und minütlich neue beleidigende Kommentare dazu kommen, lässt das niemanden kalt. Hass im Netz ist eine Gewalterfahrung und hat massive Auswirkungen auf Betroffene: Das reicht von Ängsten, Scham und Wut bis hin zu Depressionen, Schlaflosigkeit oder sogar Suizidgedanken. Nach so einer Erfahrung überlegen sich viele Betroffene dreimal, ob sie sich in Zukunft noch zu bestimmten Themen äußern. Im schlimmsten Fall ziehen sie sich ganz aus dem öffentlichen Diskurs im Netz zurück – während die Täter*innen dort nahezu unbehelligt weitermachen. Die Gewalt trifft aber auch alle, die still mitlesen und sich angesichts der vielen Hasskommentare denken: Da diskutiere ich lieber nicht mit, sonst passiert mir das auch. Digitale Gewalt ist damit eine der größten Gefahren für unsere Demokratie.
Wie kann man dagegen vorgehen?
Anna-Lena von Hodenberg: Es ist wichtig, sich selbst so gut wie möglich zu schützen: Auch auf der Straße würden wir nicht jeder fremden Person alles über uns verraten. Genauso vorsichtig müssen wir im Netz sein. Dabei hilft es, sich ab und an selbst zu googeln und auch mal bis mindestens Seite 5 zu gehen, zu schauen: Was finde ich über mich? Lassen sich aus den Informationen Rückschlüsse auf meinen Wohnort ziehen? Wer bereits akut betroffen ist, sollte mit dem Hass nicht allein bleiben. Es kann helfen, sich Menschen aus dem eigenen Umfeld anzuvertrauen oder sich an eine Beratungsstelle zu wenden, um über das Erlebte zu sprechen. Außerdem raten wir dazu, auch rechtlich gegen die Täter*innen vorzugehen.
Was gilt es bei einer Anzeige zu beachten?
Anna-Lena von Hodenberg: Ein erster Schritt sollte sein, die Kommentare mithilfe rechtssicherer Screenshots zu dokumentieren. So etwas übernehmen wir unter anderem auch bei Bedarf für Betroffene, damit sie sich nicht wieder und wieder durch den ganzen Hass arbeiten müssen. Anzeige kann bei der nächsten Polizeidienststelle oder Staatsanwaltschaft erstattet werden. In den meisten Bundesländern geht das inzwischen auch online. Im Falle von Beleidigung, Verleumdung oder übler Nachrede muss zusätzlich auch ein schriftlicher Strafantrag innerhalb von drei Monaten gestellt werden. Es ist also wichtig, damit nicht zu lange zu warten. Außerdem können Betroffene zivilrechtlich gegen Täter*innen vorgehen, um die Löschung der jeweiligen Inhalte oder eine Geldentschädigung zu erwirken.
Was tun die Plattformen gegen digitale Gewalt?
Anna-Lena von Hodenberg: Viel zu wenig. Und nicht nur das: Sie verdienen auch daran. Plattformen sind zuallererst Wirtschaftsunternehmen, die ein Interesse daran haben, uns alle so lange wie möglich auf ihren Seiten zu halten. Und besonders gut funktioniert das leider mit Inhalten, die uns aufregen und wütend machen. Da bleiben dann auch mal Kommentare oder Falschzitate, die bereits gerichtlich als illegal eingestuft wurden, gut sichtbar für alle im Netz stehen. Während die Betroffenen weiter darunter leiden, verdienen die Plattformen damit Geld. Wir erleben in unserer Beratung nahezu täglich, wie Betroffene bei der Durchsetzung ihrer Rechte an Facebook, Twitter und Co scheitern. Hier braucht es die Politik: Große Social-Media-Plattformen müssen stärker reguliert, Betroffene besser geschützt werden.
„Schlampe“, „Drecks Fotze“, "hohle Nuß, die entsorgt gehört"… 2019 urteilte das Landgericht Berlin, dass Renate Künast als Politikerin „Kritik“ in stärkerem Maße hinnehmen müsse.[2] Nun hat das Bundesverfassungsgericht im Februar dieses Jahres der Verfassungsbeschwerde Künasts gegen die Entscheidung der Vorinstanzen stattgegeben. Als man die Begründung zu dem Urteil 2019 las, mussten viele sicher ganz schön schlucken. Sind unsere Gesetze und unsere Gerichte auf diese neuen Formen von Hass eingestellt?
Anna-Lena von Hodenberg: Ja und nein. Wir haben in den vergangenen Jahren deutliche Verbesserungen gesehen, etwa durch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG). Nutzer*innen müssen nun beispielsweise keine Briefe auf Englisch mehr nach Irland schicken, wenn sie Facebook erreichen wollen. Gut ist auch, dass Feindeslisten oder die Androhung von Vergewaltigung im Netz endlich unter Strafe gestellt wurden. Aber es gibt auch Nachholbedarf, zum Beispiel bei der Identifizierung von Täter*innen. Selbst Strafverfolgungsbehörden scheitern immer wieder an der Anonymität im Netz – und an der Verweigerungshaltung der Plattformen. In Brüssel wird mit dem Digital Services Act derzeit ein Gesetz verhandelt, das unseren Umgang mit dem Netz auf Jahre hinweg regeln wird. Wenn die Bundesregierung es mit ihrem Kampf gegen Hass und Desinformation ernst meint, muss sie das Thema in Europa jetzt zur Chefsache machen.
Was muss aus Ihrer Sicht darüber hinaus passieren, um Hate Speech zu stoppen und wie können Betroffene unterstützt werden?
Anna-Lena von Hodenberg: Wir dürfen Menschen, die im Netz bedroht und beleidigt werden, nicht allein lassen. Stattdessen können wir aktiv Gegenrede betreiben und unterstützende Kommentare posten. Oder Betroffenen direkte Nachrichten schicken, in denen wir unsere Solidarität ausdrücken. Es braucht aber auch mehr Beratungsangebote für Betroffene und eine langfristige Finanzierung von zivilgesellschaftlichen Initiativen und Projekten in diesem Bereich.
Wie kann das Thema in der Politischen Bildung - beispielsweise in Bildungsveranstaltungen - aufgegriffen werden?
Anna-Lena von Hodenberg: Es ist wichtig zu verstehen, wie Hass im Netz funktioniert und was er anrichtet. Viele Shitstorms sind beispielsweise nicht so groß, wie sie auf den ersten Blick aussehen: Da ist es dann eine kleine Zahl hochaktiver Accounts, die den Hass immer wieder aufs Neue anheizt. Nach außen sieht es dann so aus, als sei das die Meinung der breiten Masse. Das verzerrt die Wahrnehmung. Wir brauchen also viel mehr Medienkompetenztraining in diesem Bereich. Nicht nur in Schulen, sondern auch für ältere Menschen, die nicht mit dem Internet aufgewachsen sind.
Gibt es in Ihrer Arbeit ein Erfolgserlebnis, auf das Sie gerne zurückschauen?
Anna-Lena von Hodenberg: Natürlich sind da die großen Veränderungen, etwa im Fall Künast: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik hat sich das Bundesverfassungsgericht damit beschäftigt, welche Kriterien für die Beurteilung von Beleidigung in den sozialen Netzwerken relevant sind. Es hat betont, dass Politiker*innen auch dort geschützt werden müssen, weil das die Voraussetzung für gesellschaftliches Engagement sei. Diese Entscheidung ist ein wichtiges Signal für Tausende Betroffene. Aber es sind auch die vermeintlich kleinen Dinge: Immer dann, wenn wir Betroffenen konkret helfen können und es Konsequenzen für die Täter*innen gibt, ist das ein Schritt zu einem sichereren Internet für alle.
Anna-Lena von Hodenberg ist gelernte Journalistin und arbeitete u.a. für RTL und den NDR. 2018 gründete sie gemeinsam mit Campact e.V. und Fearless Democracy e.V. die Organisation HateAid gGmbH. HateAid ist die erste digitale Beratungsstelle ausschließlich für Betroffene von digitaler Gewalt. Sie unterstützt mit emotionaler Erstberatung, Sicherheitsberatung und Prozesskostenfinanzierung in Zivilprozessen. Die Organisation hat bereits mehr als 1800 Klient*innen beraten. HateAid ist Ansprechpartnerin in Policy- und Rechtsfragen zum Thema digitale Gewalt und arbeitet mit mehreren spezialisierten Kanzleien, Sonderstaatsanwaltschaften und diversen Bundes- und Landesbehörden sowie mit europäischen Entscheidungsträger*innen zusammen.
Anna-Lena von Hodenberg wurde 2020 mit dem Digital Female Leader Award 2020 ausgezeichnet und von der Zeitschrift Focus zu einer der “100 Frauen des Jahres 2020” gewählt. Im Jahre 2021 wurde sie von der Zeitschrift Capital zu den 40 unter 40 gekürt.
[1] https://www.idz-jena.de/fileadmin/user_upload/_Hass_im_Netz_-_Der_schleichende_Angriff.pdf
[2] Künast wollte von Facebook die Daten der Verfasser*innen der Hasskommentare einklagen, um gegen diese vorgehen zu können. Auch in zweiter Instanz erzielte sie nur einen Teilerfolg. Im Februar 2022 hat das Bundesverfassungsgericht der Verfassungsbeschwerde Künasts gegen die Entscheidung der Vorinstanzen stattgegeben.