Barrierearm: Wenn Inklusion auf politische Bildung trifft

// Stefanie Trzecinski

In diesem Erfahrungsbericht wird ein dreitägiges Projekt vorgestellt, in dem sich Jugendliche mit Inklusion beschäftigen. Das Projekt findet im Coworking-Space TUECHTIG statt – einem Ort, der ebenfalls inklusiv ist, in dem Menschen mit und ohne Behinderung eine an ihre Bedürfnisse angepasste Arbeitsumgebung nutzen können.

Inklusion und Politische Bildung

Inklusion geht über die bloße Integration von Schüler:innen mit besonderem Förderbedarf hinaus. Es geht stattdessen darum, eine Lernumgebung zu schaffen, in der unterschiedliche Fähigkeiten, kulturelle Hintergründe und Lebensrealitäten als bereichernd wahrgenommen werden. Die politische Bildung wiederum zielt darauf ab, junge Menschen zu kritisch denkenden und aktiven Bürger*innen werden zu lassen, die ihre demokratischen Rechte und Pflichten verstehen und ausüben können. Die Verbindung dieser beiden Ansätze verspricht nicht nur eine inklusive Bildung, sondern auch eine Generation von Personen, die die gesellschaftliche Vielfalt schätzen und respektieren. Wie könnte die Kombination beider Ansätze aussehen?

Politische Bildung + Inklusion: Ein Beispiel aus der Praxis

Das dreitägige Projekt vor den Sommerferien 2022 setzte auf die Idee des Perspektivwechsels: Schüler*innen einer Berliner Schule mit besonderen Herausforderungen nahmen die Rolle von Lehrkräften ein. Dies geschah nicht in den gewohnten Klassenzimmern, sondern im Coworking-Space TUECHTIG, dem einzigen inklusiven Coworking-Space in Deutschland, in dem Menschen mit und ohne Behinderung eine optimale Arbeitsumgebung vorfinden. Zwei erfahrene Pädagog:innen von außerhalb der Schule leiteten das Projekt. Die Lehrkräfte der Schule haben während des Projekts nicht am Unterricht teilgenommen, sondern erst bei der Präsentation des Unterrichts am letzten Tag. Die Gruppe bestand aus 20 Jugendlichen aus unterschiedlichen Klassen im Alter zwischen 13 und 16 Jahren, mit vielfältigen Hintergründen (Migrationsgeschichte, sprachliche Kompetenzen und verschiedene Förderbedarfe). Das Ziel des Projekts war es, Schüler:innen  in die Thematik der Inklusion einzuführen, indem sie eine eigene Unterrichtsstunde zu dem Thema entwickeln und halten sollten.

Mit dem Wechsel von der Schüler:innen -Perspektive zur Lehrkraft-Perspektive waren folgende Ideen verbunden:

  1. Die Schüler:innen  sollten selbst den Begriff "Inklusion" erarbeiten – mit den Facetten, die sie persönlich interessieren.
  1. Und sie sollten für ihre Rolle als Lehrkraft Ideen entwickeln, wie sie ihre selbst erarbeiteten Inhalte möglichst so vermitteln, dass die gesamte Klasse sie verstehen würde.

Das Projekt bot Schül:innen  die Gelegenheit, sich in einem geschützten Raum mit dem Konzept der Inklusion im Inhalt, aber auch in der Umsetzung auseinanderzusetzen. Denn Inklusion bedeutet nicht nur das Einbinden von Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Hintergründen, sondern auch die Schaffung einer Umgebung, in der jeder seine Meinung äußern und sich aktiv beteiligen kann. Durch Diskussionen, Recherchen und den Austausch von persönlichen Erfahrungen erweiterten die Teilnehmenden ihr Verständnis für die Vielschichtigkeit des Themas.

Die Umsetzung

Tag 1: Aufbau und Grundlagen

Ein erfolgreicher Unterricht geht über das bloße Vermitteln von Wissen hinaus. Er schafft eine Umgebung, in der Schüler:innen nicht nur lernen, sondern sich auch respektiert, gehört und ermutigt fühlen. Deshalb wurde zu Beginn des Projekts gemeinsam mit den Schüler:innen mithilfe einer Abstimmung erarbeitet, welche Verhaltensweisen ihnen wichtig sind, damit sie sich wohlfühlten.

Hier das Ergebnis:

  1. Aktives Zuhören: Aktives Zuhören ist für die Jugendlichen von großer Bedeutung, da es ihnen ein Gefühl der Wertschätzung vermittelt. Wenn Lehrkräfte oder Mitschüler:innen aktiv zuhören, erfahren sie Anerkennung für ihre Gedanken und Meinungen, was ihr Selbstwertgefühl positiv beeinflusst. Diese aufmerksame Zuwendung fördert zudem die Offenheit und schafft eine Atmosphäre des Verständnisses. Dadurch fühlen sich Schüler:innen ermutigt, ihre Gedanken und Fragen zu teilen, da sie sicher sind, dass diese ernst genommen werden. Diese Kommunikationsdynamik trägt nicht nur zu einer verbesserten Interaktion bei, sondern vertieft auch den Lernprozess. Indem sie merken, dass ihr:e Gesprächspartner:in ihnen aufmerksam folgt, sind sie motivierter, Fragen zu stellen und Konzepte besser zu verstehen.
  1. Vermeidung von Auslachen oder Herabsetzen: Ein sicherer Unterrichtsraum sollte frei von Angst vor Spott oder Herabsetzung sein. Die Angst vor Spott oder Herabsetzung kann die Lernmotivation stark beeinträchtigen. Schüler:innen könnten zögern, Fragen zu stellen oder Unsicherheiten anzusprechen, aus Angst, sich lächerlich zu machen. Wenn jedoch ein respektvolles Umfeld herrscht, in dem Fehler als Teil des Lernprozesses betrachtet werden, werden sie eher bereit sein, sich aktiv am Unterricht zu beteiligen und ihre Lernziele zu verfolgen.
  1. Vermeidung von Unterbrechungen: Unterbrechungen können den Fluss des Unterrichts stören und dazu führen, dass sich die sprechende Person entmutigt fühlt. Ein respektvoller Umgang erfordert, dass jede Person die Möglichkeit hat, ihre Gedanken auszudrücken, bevor eine Antwort oder Reaktion erfolgt. Dies schafft Raum für vielfältige Meinungen und Ideen.

Schon das Herausarbeiten der drei obigen Prinzipien führte zu einem positiven Lernumfeld. Die Jugendlichen fühlten sich respektiert, wertgeschätzt und ermutigt, aktiv am Unterricht teilzunehmen.

Im Anschluss wurde das Thema Inklusion eingeführt. Was wussten die Teilnehmenden? Was verstanden sie unter dem Begriff? Die beiden Projektleiter:innen haben nicht den Begriff erläutert oder mit Inhalten gefüllt. Stattdessen wurde mit der Gruppe erarbeitet, welche Möglichkeiten es gibt, mehr Informationen zu dem Thema zu bekommen. Ihnen wurde gezeigt, wie sie im Internet recherchieren können (Laptops wurden ihnen zur Verfügung gestellt), welche Quellen glaubhaft sind und welche nicht. Zudem wurden Interviewpartner:innen aus dem TUECHTIG vorgestellt, die den Teilnehmenden praktische Einblicke in die Thematik gaben.

Insgesamt zielte der erste Tag darauf ab, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern auch soziale Kompetenzen zu fördern, eine positive Lernatmosphäre zu schaffen und die Jugendlichen azu zu ermutigen, aktiv zu lernen, sich auszudrücken und respektvoll miteinander umzugehen.

Tag 2: Vertiefung und Praxis

Der zweite Tag widmete sich der Vertiefung der Themen und einer aktiven Auseinandersetzung mit verschiedenen Unterrichtsmethoden. Auch hier teilten die Jugendlichen zu Beginn ihre persönlichen Erfahrungen zu den erlebten Unterrichtsmethoden mit und identifizierten, was sie als motivierend und was sie als langweilig empfanden.

Im Anschluss teilten die beiden Projektleiter:innen die Teilnehmenden in Gruppen ein, welche gemeinsam den Unterricht für den dritten Tag halten sollten. 

Bevor die verschiedenen Gruppen jedoch ihren Unterricht planen sollten, wurde in der Gruppe überlegt, wie ihre eigenen Lehrer:innen  den Unterricht aufbauen. Dafür erzählten die Schüler:innen von deren erfahrenen Unterricht, womit dieser beginnt und was die verschiedenen Stufen sind. Durch die Analyse des Unterrichts entwickelten sie ein besseres Verständnis für dessen Struktur.

Darauf aufbauend und mit dem Wissen über das Thema Inklusion aus dem vorherigen Tag, sowie den Anregungen zu den verschiedenen Methoden, planten die Schüleri:nnen  im Anschluss in ihren Gruppen ihre eigenen Unterrichtseinheiten. 

Sie nutzten die geführten Interviews mit den Interviewpartner:innen aus dem TUECHTIG, entwickelten eigene Spiele und gestalteten Arbeitsblätter. Am Ende des Tages präsentierten die Gruppen ihre Unterrichtskonzepte und erhielten konstruktive Rückmeldungen von den anderen Gruppen.

Tag 3: Präsentation und Stolz

Der dritte Tag war dem Präsentieren der erarbeiteten Unterrichtseinheiten gewidmet. Die Schüler:innen  hatten zu Beginn des Tages Zeit, die letzten Details ihrer Präsentationen vorzubereiten. Es wurde deutlich, dass sie nicht nur während der Projektzeit, sondern auch außerhalb intensiv an ihren Konzepten gearbeitet hatten. Arbeitsblätter, Quizfragen und Interviews wurden gekonnt in die Präsentationen eingebunden. 

Das Schöne: Die Schüler:innen  übernahmen unterschiedliche Rollen in der Durchführung des Unterrichts und sprangen gegenseitig ein, wenn Nervosität aufkam. Den einzelnen Gruppen war es wichtig, dass sie einen guten Unterricht hielten, sodass sie den anderen Schüler:innen  ihre Inhalte gut vermittelten. Es war ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl und eine offene Lernatmosphäre zu spüren.

Das Projekt - unsere Erkenntnisse

Das Projekt führte nicht nur zu einem tieferen Verständnis für das Thema Inklusion, sondern vermittelte den Jugendlichen auch wertvolle überfachliche Kompetenzen:

  • Eigenverantwortung: Die Schüler:innen  übernahmen Verantwortung für ihre eigenen Lernprozesse und erkannten, dass sie in der Lage sind, aktiv zum Unterricht beizutragen.
  • Kommunikation: Die erarbeiteten Regeln und die Zusammenarbeit in Gruppen förderten eine offene Kommunikation auf Augenhöhe.
  • Selbstwirksamkeit: Die Präsentationen vor der Gruppe stärkten das Selbstvertrauen der Schüler:innen  und zeigten ihnen, dass sie in der Lage sind, Wissen auf überzeugende Weise zu vermitteln.
  • Aufweichen von Rollen: Der Perspektivwechsel von Schüler:innen  zu Lehrkräften führte zu einer neuen Dynamik im Unterricht. Die Schüler:innen  empfanden es als motivierend, nicht nur Wissen zu empfangen, sondern aktiv dazu beizutragen.

Schlussgedanken

Die Jugendlichen haben mit viel Kreativität, Ausdauer und Engagement am Projekt teilgenommen. Ihre regelmäßige Anwesenheit, selbst an anstrengenden Tagen, zeugt von ihrer Entschlossenheit und ihrem Eifer, das Projekt erfolgreich umzusetzen. Es war beeindruckend zu beobachten, dass sie sogar ihre Zeit außerhalb der Schule nutzten, um sich aktiv einzubringen.

Die Tatsache, dass andere Klassen in anderen Projekten Fußball spielten, zeigt, dass die Schüler:innen nicht nur aus Pflichtgefühl, sondern aus echtem Interesse und Enthusiasmus teilgenommen haben. Dies hat dazu geführt, dass sie nicht nur pünktlich waren, sondern auch Verantwortung übernahmen und aktiv Wissen vermittelten. 

Auch die Lehrkräfte, die an der Präsentation des Unterrichts teilnahmen, waren von dem Engagement der Schüler:innen  beeindruckt. Insbesondere ein Jugendlicher mit Förderstatus „Lernschwierigkeiten“ stach hervor, weil er im Klassenunterricht kein Tafelbild abmalen konnte. Im Projekt übernahm er hingegen die Verantwortung für seine Gruppe und dem Unterricht, sprang ein, wenn jemand den Faden verloren hatte und motivierte die Teilnehmenden am Rätsel teilzunehmen.

Es war für alle Mitwirkenden ein anstrengendes, aber ein erfolgreiches Projekt. Nicht nur aufgrund der erzielten Ergebnisse, sondern auch wegen der Veränderungen, die es bei den Jugendlichen bewirkt hat. Die Begeisterung, das Engagement und die Übernahme von Verantwortung sind Zeichen für eine umfassende Bildung, die nicht nur auf akademisches Wissen, sondern auch auf persönliches Wachstum abzielt. 

Dieses Projekt verdeutlicht somit eindrucksvoll, wie die Kombination von politischer Bildung und Inklusion nicht nur Wissen vermittelt, sondern auch den Weg zu einer gerechten und gemeinschaftlichen Gesellschaft ebnet, in der Vielfalt als Stärke betrachtet wird und jeder Einzelne befähigt wird, aktiv am demokratischen Gestaltungsprozess teilzunehmen.

Das Projekt wurde in Kooperation mit Arbeit und Leben Berlin-Brandenburg durchgeführt.

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