Aus der Praxis: l'amour toujours bei der DFJW-Begegnung
Ende Mai habe ich eine Deutsch-Französische Jugendbegegnung begleitet. Am Abschlussabend kam es zu einer intensiven und emotionalen Auseinandersetzung, die verdeutlicht, wie eng kulturelle Erlebnisse und politische Bildung miteinander verknüpft sein können – oft in Momenten, in denen man es gar nicht erwartet.
Doch beginnen wir von vorn. Ende Mai stand die Rückbegegnung einer Deutsch-Französischen Jugendbegegnung an. Auszubildende aus Medizinberufen feierten im Hof des Gewerkschaftshauses den Ausklang einer tollen gemeinsamen Woche bei kühlen Getränken und heißem Grillgut. Die deutschen Teilnehmenden hatten eine kleine Musikanlage dabei und spielten ihre Lieder, alle hatten eine gute Zeit.
Zum Ausklang des Abends, alle räumten gemeinsam auf, spielte einer der DJs dann das Lied „L'Amour Toujours“ von Gigi D'Agostino – ein eigentlich unbeschwertes, vielleicht etwas belangloses Liebeslied Doch seit einiger Zeit kursiert ein neuer Text zum Refrain, der spätestens nach dem viralen Sylt-Video stark mit der Parole ‚Deutschland den Deutschen. Ausländer raus‘ verbunden wird.
Schon bei den ersten Takten war mir klar: hier braucht es jetzt schnell eine Entscheidung. Entweder aufmerksam verfolgen und weiterlaufen lassen oder direkt einschreiten. Ich entschied mich fürs Einschreiten. Zuerst bat ich die DJs das Lied zu wechseln, als sie darauf nicht reagierten schaltete ich das Lied einfach aus. Damit begann eine lange und intensive Diskussion.
„Warum darf ich nicht hören, was ich mag?“
Die Jugendlichen sahen sich in ihrer Meinungsfreiheit beschnitten, verwiesen darauf, dass das Lied selbst unpolitisch sei und man sich solche durch Ausländerfeind:innen nicht wegnehmen lassen dürfe und dass man „in diesem Land bald nichts mehr darf“. Ich führte an, dass wir hier in einer internationalen Jugendbegegnung, auf dem Hof des Gewerkschaftshauses und in direkter Nachbarschaft des Flüchtlingsrats seien und dass es eben Orte gibt, an welchen bestimmte Lieder einfach keinen Platz haben.
Was ist das richtige Verhalten?
Das ist die Frage, die ich mir und meinen Kolleg:innen danach immer wieder gestellt habe. Habe ich die Jugendlichen vorverurteilt? Habe ich mit meinem Verbot ein Narrativ bestätigt, nachdem bald nichts mehr erlaubt ist? Welche Verantwortung habe ich als Veranstalter? Wie bereite ich mich und die Teilnehmenden darauf besser vor? Wie hätte die Situation anders entschärft werden können? Wie gehen wir mit sogenannten dog whistle um?
Ein Lied als rechte dog whistle
Was ist eine dog whistle:
Eine dog whistle im politischen Raum ist eine gezielt doppeldeutige Botschaft, die auf den ersten Blick harmlos oder allgemein verständlich wirkt, aber für bestimmte Zielgruppen eine tiefere, oft radikalisierende Bedeutung hat. Während die breite Öffentlichkeit beispielsweise nur von „Werten“ oder „Traditionen“ hört, erkennen ideologisch gefestigte Gruppen darin versteckte Signale – etwa eine Ablehnung von Migration, Vielfalt oder Gleichstellung.
Diese Strategie erlaubt es politischen Akteuren, extremere Inhalte zu vermitteln, ohne offene Empörung auszulösen. Sie erreichen damit zwei Zielgruppen gleichzeitig: die allgemeine Wählerschaft und eine eingeschworene Basis. Oft dienen solche Botschaften auch dazu, gesellschaftliche Debatten zu verschieben, indem sie Grenzen des Sagbaren testen und langsam verschieben (Overton-Fenster).
Dog Whistles sind schwer zu erkennen und werden nicht zufällig gewählt – sie setzen voraus, dass das angesprochene Publikum die versteckte Bedeutung kennt. Das macht sie besonders gefährlich in politischen Debatten, da sie Polarisierung befeuern, ohne direkt angreifbar zu sein.
Das Lied „L'Amour Toujours“ fungiert inzwischen als eine solche dog whistle. Insider spielen dieses Lied und selbst ohne die neuen Textzeilen ist Eingeweihten sofort klar, was hier gemeint ist. Informierten und engagierten Demokrat:innen lässt das dann nur wenig Spielraum: Entweder unwidersprochen laufen lassen oder dagegen vorgehen und von Nicht-Eingeweihten als Vertreter:innen der sogenannten „cancel-culture“ wahrgenommen werden.
Politische Bildung im Alltag – Räume für kritisches Nachfragen schaffen
Dieser Vorfall zeigt, wie wichtig es ist, in Bildungssettings Raum für Unsicherheit, Widerspruch und kontroverse Diskussionen zu lassen – und auch uns als Fachkräfte immer wieder kritisch zu hinterfragen. Selbst wenn wir ab und an reflexhaft verbieten oder moralisieren, braucht es anschließend die Gelegenheiten, in denen junge Menschen gesellschaftliche Entwicklungen erklärt werden und sie ihre eigenen Standpunkte darlegen können.
Gerade in internationalen Jugendbegegnungen wird deutlich, dass solche Aushandlungsprozesse kulturell geprägt sind. Politische Bildung bedeutet auch, diese Unterschiede sichtbar zu machen, sie auszuhalten – und dabei gemeinsam nach Orientierung zu suchen.
Am Ende bleibt die Erkenntnis: Politische Bildung geschieht oft nicht im Seminarraum, sondern im Kleinen – auf dem Innenhof, am Grill, im Streit um ein Lied. Dort, wo wir uns entscheiden müssen, wie wir handeln. Wo keine perfekte Antwort bereitliegt.
Und vielleicht ist genau das unsere Aufgabe: Momente wie diesen nicht zu vermeiden, sondern sie bewusst aufzugreifen – als Einstieg in eine gemeinsame Auseinandersetzung über Verantwortung, Haltung und Grenzen in einer offenen Gesellschaft.
Der Autor ist Jugendbildungsreferent bei Arbeit und Leben Thüringen und unter anderem auch für die internationalen Jugendbegegnungen zuständig.