Zum Hauptinhalt springen

8. Mai: Befreiung – aber für wen?

// Johannes Kemnitz

Am 8. Mai 1945 kapitulierte die Wehrmacht. Der Zweite Weltkrieg endete in Europa. In der DDR wurde dieser Tag früh als „Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus“ begangen – als Feier des Sieges über den Nationalsozialismus. In Westdeutschland hingegen dominierte lange die Erzählung der militärischen Niederlage. Erst 1985 prägte Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner viel beachteten Rede die Idee, der 8. Mai sei auch für Westdeutschland ein Tag der Befreiung gewesen. Er sprach davon, „alle“ seien vom menschenverachtenden System befreit worden. Seine Worte prägen das heutige Gedenken.

Doch diese Erzählung ist nicht unproblematisch.

Wer spricht eigentlich von „Befreiung“ – und aus welcher Perspektive?

Die meisten Deutschen fühlten sich 1945 nicht befreit. Viele hatten das NS-Regime aktiv unterstützt, profitierten davon oder duldeten es schweigend. Der Begriff „Befreiung“, wenn er heute von Teilen der Dominanzgesellschaft verwendet wird, verschleiert oft diese Verstrickung. Er rückt Täter- und Mitläuferschaft in den Hintergrund und lässt die Unterscheidung zwischen Opfern und Profiteur*innen verschwimmen. Damit wird die Geschichte entschärft – und die Verantwortung relativiert.

Vivien Laumann und Judith Coffey nennen diesen Blick „gojnormativ“ – also normativ aus einer nicht-jüdischen Perspektive. Wer sagt, „wir alle wurden befreit“, blendet aus, dass Jüdinnen und Juden systematisch entrechtet, verfolgt und ermordet wurden – und auch nach 1945 kaum mit Solidarität oder Wiedergutmachung rechnen konnten. Stattdessen gelangten viele Täter*innen wieder in öffentliche Ämter. NS-Ideologien blieben in Teilen der Gesellschaft wirksam.

Befreit in der Opferrolle?

So wird die Rede vom „Tag der Befreiung“ bis heute auch zur Schuldabwehr genutzt. Viele identifizieren sich mit der Opferrolle – sei es als Opfer des Krieges, der Vertreibung oder eines „kleinen Kreises von Tätern“. Studien zeigen: Zwei Drittel der jungen Erwachsenen glauben, ihre Vorfahren hätten mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun gehabt. Je mehr Zeit vergeht, desto größer wird dieser Irrtum.

Was also tun mit diesem Tag?

Ein neuer Begriff allein reicht nicht. Die Rede vom „Tag der Niederlage“ ist ebenfalls problematisch – sie wird aktuell von rechten Akteur*innen genutzt, um einen Schlussstrich unter die Geschichte zu ziehen.

Vielleicht könnte der Tag als „Sieg über den deutschen Faschismus“ bezeichnet werden, wie es die Journalistin Anastasia Tikhomirova vor schlägt. Dieser Begriff benennt klar die historische Verantwortung – und stellt nicht die deutsche Perspektive in den Mittelpunkt. Doch viel entscheidender als der Begriff sind die Fragen:

Wie gedenken wir? Welche Stimmen kommen zu Wort – und welche werden übergangen? Wer wird sichtbar – und wer unsichtbar gemacht?

Gerade für die politische Jugendbildung stellt der 8. Mai eine Herausforderung dar. Es reicht nicht, historisches Wissen zu vermitteln. Junge Menschen brauchen Räume für kritische Fragen: Was bedeutet Erinnern heute? Wie prägt uns die Geschichte? Welche Verantwortung ergibt sich daraus?

Politische Bildung kann hier ansetzen – mit Workshops, Gedenkstättenbesuchen oder digitalen Methoden. Die Projektwochen zum 8. Mai an der Universität Hamburg sind ein gutes Beispiel für aktuelle Formate. Auch Veranstaltungen in Berlin, organisiert von zivilgesellschaftlichen Bündnissen, setzen auf vielfältige Perspektiven. Materialien und Methoden gibt es unter anderem bei der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb.de) oder bei Aktion Sühnezeichen Friedensdienste.

Der 8. Mai sollte kein staatlich verordnetes Ritual sein, sondern ein Tag der offenen Fragen: Wer wurde befreit? Wer hat befreit? Und was tun wir heute gegen Antisemitismus, Rassismus und rechte Ideologien?


Home